Sonntag, 10. November 2002, 18.30 Uhr
Josef Haydn: Die Schöpfung
Das tönende Weltbild der Klassik – ein Oratorium für jeden Geschmack und jede Zeit?
Wenig Werke haben einen derartigen ungeheuren Triumphzug erlebt: kurz nach der Uraufführung fanden Konzerte in Budapest, St. Petersburg, Paris, London und Stockholm statt, oft mit 200 oder mehr Beteiligten. Chorvereine und Musikinstitute wurden eigens gegründet, um Haydn’s Schöpfung aufführen zu können, so zum Beispiel die "Allgemeine Schwizerische Musikgesellschaft". Das aufgeklärte, liberale 19. Jahrhundert war vom Werk und dessen neuen Inhalten bewegt wie nie zuvor! Haydn’s Werk überwältigte das Publikum durch seine glaubwürdige Mythologie, als Zeugnis klassischer und auch romantischer Weltfrömmigkeit, als musikalische Interpretation einer mit Vernunft und Gefühl zugleich verstandenen Genesis.
Trotzdem gehörte es zum guten intellektuellen Ton, über Text und Musik die Nase zu rümpfen: wegen des angeblich naiven Textes mit seiner Bilderfolge und wegen der häufig tonmalerischen Musik. In Wirklichkeit aber ist die freie Nacherzählung der biblischen Schöpfungsgeschichte alles andere als "naiv": gleich zu Anfang ist da ja die Rede vom Zusammenstoss zwischen den Mächten der Finsternis (= Aberglaube) und des Lichts (=Vernunft). Später: die Erschaffung des Menschen, der mit Bewusstsein ausgestattet ist. Dargestellt unter dem Aspekt der Verpflichtung gegenüber der Schöpfung. Die aufgeklärte Grundhaltung ist immer wieder greifbar: der ausdrückliche Verzicht auf den Sündenfall oder der unbiblische Text, der das Selbstbewusstsein des Menschen behandelt, entwerfen ein Bild von Mensch und Natur, in dem sich Kants Gedanke von dem "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" dokumentiert. Ein utopisches Moment, das seine ganze Aktualität erst heute, im Angesicht der globalen Umweltzerstörung erweist.
Mitwirkende
Madelaine Wibom, Sopran
Hans-Jürg Rickenbacher, Tenor
René Koch, Bass
Vokalensemble Luzern
Leitung: Hansjakob Egli